Kategorien
Nähen

Kokon

Poiret Cocoon Coat

In meinem Programmhinweis neulich war er schon zu sehen, jetzt noch mal ausführlich. Der Cardigan. Der eigentlich ein Mantel ist. Und mein erstes Projekt in diesem Jahr war. Falls das irgendwie richtungsweisend für die Zukunft ist, dann strahlt dieses hier Erneuerung und Optimismus aus. Klingt ziemlich imposant und ist vielleicht ein bisschen dick aufgetragen für ein Nähprojekt, wenn man streng ist. Aber das bin ich gerade mal nicht. Ich sehe darin ganz viel Poesie und Selbstliebe und Mut.

Poiret Cocoon Coat

Es ist ein besonderes Projekt, weil auch das Schnittmuster ein besonderes ist. Aus Seattle per Post gekommen, für umgerechnet ~20€. Das ist mehr Geld und mehr Aufwand als ich normalerweise zur Beschaffung eines Schnitts aufwenden würde. Aber das hier ist eben was anderes. Es handelt sich um Folkwear 503, den Paul Poiret Cocoon Coat. Gekauft habe ich den Schnitt schon vor ein paar Jahren (2013?), aber bisher nur dekorativ an meinem Nähplatz zu stehen gehabt.

Der Schnitt ist schön verpackt, die Vorderseite könnte man direkt so rahmen. Auf der Rückseite und auch im Innenteil erfährt man noch einiges über den Designer, unter anderem dieses Zitat von ihm, das ich sehr schön und treffend finde:

„I like a plain gown, cut from light and supple fabric, which falls from the shoulders to the feet in long, straight folds, like thick liquid, just touching the outline of the figure and throwing shadow and light over the moving form.“

Poiret Cocoon Coat

Im Metropolitan Museum befindet sich ein Poiret Original, offenbar nach diesem Schnitt. Was mich daran so fasziniert? Erst mal ist es ein historischer Schnitt, aus den 1910er Jahren. Und trotzdem ist das Design so aktuell, immer noch elegant und extravagant, quasi zeitlos. Und dann ist der Mantel, der nur aus zwei Schnittteilen besteht und den Körper so raffiniert und mondän umfließt ein kleines Wunderwerk für sich. Er passt genau zu meiner Begeisterung für einfache, geometrische, ungewöhnliche, architektonische Schnitte. Ein Statement-Piece, das schon für sich alleine wie ein Kunstobjekt wirkt.

Poiret Cocoon Coat

Betrachtet man Poirets Werdegang und Schaffen sieht man, dass dieser Mantel ziemlich typisch für seinen Stil ist. Er war wegweisend was die Abschaffung des Korsetts betraf, entwickelte neue Silhouetten inspiriert von historischen und folkloristischen Kleidern und etablierte das Drapieren als Alternative zur bisherigen Methode der Schnitterstellung. Natürlich waren seine Ideen für die damalige Zeit radikal neu und stießen nicht nur auf Gegenliebe. Es gibt die überlieferte Episode, dass er während seiner Arbeit für das Haus Worth einer russischen Prinzessin einen Kimonomantel präsentiert hat, den sie kommentierte mit den Worten: „What horror; with us, when there are low fellows who run after our sledges and annoy us, we have their heads cut off, and we put them in sacks just like that.“ (Quelle) Wie wenig und wie viel sich doch in den letzten 100 Jahren verändert hat.

Strickstoff

Ich habe sehr lange gegrübelt, welcher Stoff sich für diesen Mantel eignet. Samt entspräche dem historischen Original, war mir aber zu feierlich und pompös. Ursprünglich ist das ein Abendmantel, aber meine Version sollte alltagstauglich sein. Wichtig ist in jedem Fall ein fließendes Material, nicht zu elastisch, mit einem gewissen Eigengewicht, aber trotzdem nicht zu schwer. Ich wollte außerdem keinen zu glatten Stoff, um der Optik eines Cardigans näher zu kommen. Ein bisschen kuschelig eben. Überzeugt hat mich schließlich ein glatter Strickstoff in Anthrazit.

Das vorgesehene Futter habe ich weg gelassen und die Verarbeitung entsprechend ein wenig salopper gestaltet. So wirkt der Schnitt etwas moderner, ohne seine Essenz zu verlieren. Pardonnez-moi, Monsieur Poiret!

Der Zuschnitt war eine gewisse Herausforderung, allein aufgrund der Größe der Teile. Es gibt ein einziges Schnittteil für den kompletten Mantel, das sich – zwei mal zugeschnitten und mit einer Naht im Rücken zusammengesetzt – mit nur einem Abnäher und einer zusätzlichen Naht auf irrwitzige Weise um den Körper schlingt. Dazu kommt nur noch der Kragen, der später aufgesetzt wird. Das grenzt schon ein wenig an Magie.

Im Original wird innen neben die Ansatznaht des Futters eine Borte genäht, sie soll den Futterstoff stabilisieren, so dass er nicht aus dem Mantel herausschlappt. Davon inspiriert habe ich die Vorderkante auch mit einem Band verarbeitet, das auf die Innenseite umgeschlagen wird. Wichtig war mir hier vor allem, die Kante vor dem Ausleiern zu bewahren. Ich hätte gerne eine schöne Borte genommen, habe aber keine gefunden die mich überzeugt hat. Also habe ich Schrägband zugeschnitten, aus einem gemusterten Stoffrest. Vielleicht ist der etwas zu dicht gewebt und damit zu wenig anschmiegsam oder ich habe das Band zu ehrgeizig um die Kurve gelegt, auf jeden Fall fällt die Vorderkante an der Rundung nicht 100% glatt. Das ist aber nur eine Kleinigkeit, die mich auch nicht genug stört als dass ich das überarbeiten wollen wurde.

Es soll noch einen oder zwei Knöpfe als Verschluss geben, ich habe aber noch keine gefunden, die mich überzeugt haben. Aber das hat auch Zeit.

Poiret Cocoon Coat

Es ist die Art von Kleidungsstück mit dem man melancholisch am Fenster stehen kann, in die Dunkelheit hinaus blicken und Baudelaire zitieren. Und der Stoff fällt dazu ganz schwermütig und weich. Aber anders als vor 100 Jahren kann man heute darunter wunderbar Hosen tragen (Mon dieu!).

Zusammenfassung

Schnitt: Folkwear 503
Änderungen: Ohne Futter
Material: 3,5m Strickstoff, Rest Baumwollstoff

14 Antworten auf „Kokon“

Wow – das ist ja mal ein Ding!
Deine Version ist so kuschlig, ich beneide Dich richtiggehend darum ;)
Auch aus einem schweren Stoff kann ich ihn mir vorstellen – oder aus einem fließenden.
Danke Dir für diese Inspiration!
Julia

Das geht erstaunlich gut, bin selber etwas überrascht. Sogar unter der Lederjacke kein Problem. Der Stoff ist gar nicht so dick und knautscht sich ganz gut zusammen. Trägt nicht mehr auf als ein mittelflauschiger Pullover.

Sehr schickes Stück!
Und Gott, der Kommentar von der russischen Prinzessin! Irgendwie echt kein Wunder, dass sie die ganze Bande dann totgeschlagen haben. Was natürlich auch nicht OK war. Aber nachvollziehbar.

Ich bin überwältigt!
Das ist ja ein großartiges Stück geworden!
Der Mantel gefällt mir sehr gut. Diese Rafinesse! Ich kann Deine Begeisterung völlig nachvollziehen.

Asche auf mein Haupt. Da liegt dein Post nun schon über drei Wochen in meinem Feed, weil ich doch unbedingt kommentieren wollte.
Wow! Ich mag Poiret, gerade weil er so viel und so viel unerwartetes aus scheinbar simplen Konstruktionen herausholt, habe ja auch einmal ein Kleid von ihm genäht. Dein Mantel ist völlig zeitlos geworden, zeigt mal wieder wie gut geniale Ideen altern. Als ich die Vorschau gesehen habe, hätte ich im Leben nicht an einen historischen Schnitt gedacht. Ganz grosse Liebe, auch wenn ich ihn wohl selber nie so genäht hätte und nie Gelegenheit zum Anziehen hätte, an dir sieht er wahnsinnig gut und modern aus.

Your coat is amazing. I’ve been looking at valves to make this coat. I wanted velvet, however I was worried if I made it from anything other than silk velvet then it wouldn’t give it the soft hand that it requires. It looks like you made yours from a knit. Was the knit difficult for this pattern? What would you suggest? Yours has the perfect drape!

Thanks Tracy! You can use a knit, but keep in mind that the weight of the fabric can distort the shape of the garment. The fabric I used is quite lightweigt (it’s a poly), but a heavy rayon for example would look and feel different (it is a lot of fabric after all). You may need to stabilize the seams and/or edges. I used a stable bias tape at the front edge and interfaced the collar. And, if you plan to line your coat, the lining of course needs to have a similar stretch.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert